30. Woche - „Der grüne Strahl“ über der Ostsee

Jules Verne schreibt in den ersten Zeilen zum „Le Rayon vert“, wie der „grüne Strahl“ im Französischen heißt: „Habt ihr jemals die Sonne am Horizont untergehen sehen? – Ja, sicher! – Habt ihr sie verfolgt, bis der oberste Rand ihrer Scheibe den Horizont gerade berührte und hinabtauchen wollte? – Sehr wahrscheinlich wohl. – Aber habt ihr die Erscheinung bemerkt, die beim letzten Sonnenstrahl entsteht, wenn der Himmel ohne Nebel und vollkommen klar ist? – Vielleicht nicht. –…“
Wenige warten vermutlich auf diesen einen besonderen Moment: das Aufblitzen des so genannten „grünen Strahls“. Manfred Kiau aus Duisburg hat diesen Moment gezielt gesucht. So einfach lässt sich das sehr flüchtige Phänomen aber nicht einfangen. Bestimmte Rahmenbedingungen müssen dabei schon erfüllt sein, um diese nur wenige Sekunden weilende Erscheinung sehen zu können. Die besten Voraussetzungen bestehen bei sehr trockener und sauberer Luft, damit die Sonne beim Untergang (oder Aufgang) noch hell genug ist. Die Beobachtung am Meer bietet hier meist die besseren Voraussetzungen und ein Sonnenuntergang macht die Sichtung auch leichter, da man bei Sonnenaufgang nicht genau weiß, wo sie aufsteigt. Hat man nicht die Möglichkeit am Meer zu beobachten, sollten Wolken oder Berge nicht mehr als 3° über den Horizont ragen. Auf einer Südpolexpedition war der grüne Strahl z.B. ca. 35 Minuten sichtbar, als die Sonne nach der langen Polarnacht zum ersten Mal wieder aufging und sich dabei genau am Horizont entlang bewegte. Sonst bleiben nur wenige Sekunden zur Sichtung.
Was es hat es mit dem grünen Strahl auf sich? Die meisten kennen nur die roten Sonnen Auf- oder Untergänge. Aber genau diese gehören zur Erklärung des grünen Strahls auch dazu – zu einem Teil. Ursache für dieses Phänomen ist einmal die so genannte „atmosphärische Refraktion“, zweitens dann auch in viel stärkerem Maß die „atmosphärische Dispersion“.
Betrachtet man den Sonnenuntergang genauer, stellt man fest, dass sich ihre Form vor dem Versinken unter den Horizont deutlich verändert. Sie flacht von einer kreisförmigen Scheibe zu einer Ellipse ab. Von Bergen aus ist es bei entsprechend freier Sicht zum Horizont am besten zu sehen. Die Ursache dafür ist die Brechung der Sonnenstrahlen beim Übergang in optisch dichtere Luftschichten. Ein Lichtstrahl, der von außen auf die Atmosphäre trifft, dringt dabei im weiteren Verlauf immer tiefer in die dichteren Luftschichten ein, wo der Brechungsindex der Luft zunimmt und die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Lichtstrahlen sich etwas verringert. Dabei kommt es zu einer stetigen Krümmung der Lichtstrahlen. Diese „vertikale Refraktion“ (denn es gibt auch eine laterale, also seitliche Refraktion) bewirkt, dass alle Objekte am Himmel etwas angehoben erscheinen, sodass man gewissermaßen „unter den Horizont“ schauen kann. Ein Stern ist aufgrund der Refraktion noch zu sehen, wenn er schon ca. 35 Bogenminuten unter dem Horizont steht. Wichtig zu wissen ist dabei, dass diese Krümmung mit längerem Weg eines Lichtstrahls durch die Atmosphäre wächst. Je flacher der Strahl auf die Atmosphäre trifft, desto stärker ist die resultierende Krümmung. Für die Sonne bedeutet das, dass ihr unterer Rand wegen der hier stärkeren Refraktion (35 Bogenminuten) mehr gehoben wird als der obere Rand (29 Bogenminuten). Der untere Rand rückt also scheinbar an den oberen Sonnenrand heran und verleiht der Sonne damit ihre abgeplattete Form. Die Abplattung beträgt dann 6 Bogenminuten oder 1/5 ihres scheinbaren Durchmessers.
Die Refraktion ist aufgrund sich ändernder Temperaturverteilungen in der Atmosphäre jeden Tag etwas anders. Jetzt kommt der bereits angedeutete zweite Effekt dazu. In direkter Horizontnähe gibt es nicht nur die oben beschriebene brechungsbedingte Krümmung des Lichtstrahls, sondern auch eine spektrale Aufspaltung des Lichts. Ein Stern in Horizontnähe wird in ein kleines vertikales Spektrum verzogen. Ebenso die untergehende Sonne, sie wird dadurch gewissermaßen in mehrere verschiedenfarbige Sonnenbilder zerlegt. Da die Stärke der Dispersion von der Wellenlänge (Farbe) abhängt – Blau wird am meisten gekrümmt, Rot am wenigsten – erscheinen die farbigen Sonnenbilder in der Senkrechten eine winzige Spur gegeneinander verschoben. Der Unterschied zwischen Blau und Rot beträgt gerade einmal 1/60 des scheinbaren Sonnendurchmessers. Ganz oben befindet sich Blau, darunter Grün, Gelb, Orange und am tiefsten Rot. Man sieht also scheinbar zuerst die „rote Sonne“ untergehen, kurz darauf die „grüne“ und zuletzt die „blaue“. Das gelbe und orangefarbene Licht wird größtenteils durch Wasserdampfmoleküle absorbiert und die „blaue Sonne“ durch die Luftmoleküle vollständig zerstreut. So erscheint nach dem Untergang der „roten Sonne“ für ein paar Sekunden der grüne Strahl als untergehende „grüne Sonne“.
Es gibt drei Erscheinungsformen des grünen Strahls:
1. Der „grüne Saum“, der fast immer am oberen Rand der Sonne sichtbar ist. Gleichzeitig ist der untere Rand rot. Er ist umso breiter, je tiefer die Sonne sinkt.
2. Das „grüne Segment“, welches entsteht, wenn das letzte Sonnensegment sich an den Rändern grün färbt und allmählich auch die Mitte des Segments ausfüllt.
3. Der eigentliche „grüne Strahl“ ist mit bloßem Auge äußerst selten zu sehen und gleicht einem grünen Federbüschel oder Flämmchen und schießt genau in dem Augenblick am Horizont empor, wenn die Sonne untergeht.
Bei allen drei Formen ist die Farbe meist smaragdgrün, selten gelb, mitunter bläulich oder sogar violett.
Die vorliegende Aufnahme entstand am 29. April 2017 in Heiligenhafen an der Ostsee, von der Nehrung Graswerder aus. Als Kamera kam eine digitale Spiegelreflexkamera des Typs Canon 7DMarkII mit einem 500-mm-Teleobjektiv von Canon zum Einsatz. Bei ISO 500 und Blende 8 wurde 1/1600 s belichtet. Der Autor schrieb noch dazu: „Es war ein sehr schöner Tag, sehr klar und fast windstill. Nachdem ich einige ornithologische Aufnahmen gemacht hatte und zur Unterkunft zurückgekehrt war, entschloss ich mich so kurz vor Sonnenuntergang, doch einen Versuch zu starten, den grünen Strahl zu sichten. Zusammen mit einem mich begleitenden NABU-Freund konnten wir schließlich das Phänomen durch das Objektiv visuell erfolgreich verfolgen! Bis dahin wusste dieser noch nicht, was ihn erwartete.“
Der Versuch wurde also belohnt! Wir gratulieren Manfred Kiau zu diesem eindrucksvollen „Fang“.
Text: Jens Leich
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