35. Woche - NGC 6888 – Wolf-Rayet-Nebel im Schwan

Im Schwan liegt der 20´ x 10´ große Emissionsnebel NGC 6888, der wegen seiner sichelförmigen Gestalt auch „crescent nebula“ genannt wird (engl. crescent = Mondsichel). Seine ovale Form verführt leicht dazu, NGC 6888 als einen Supernovarest aufzufassen, zumal NGC 6888 mit etwa 85 km/s expandiert und sein Innenbereich viele kleine Gasfilamente enthält. Aber bisher hat man noch keine „Sternenleiche“ (Pulsar oder Neutronenstern) im Feld von NGC 6888 gefunden. Die Natur als Supernovarest ist auch durch spektrale Untersuchungen nicht belegbar.
Heute wissen wir: NGC 6888 ist ein „Wolf-Rayet-Nebel“. In seinem Zentrum steht der 7,5 mag helle, heiße Wolf-Rayet-Stern HD 192163 vom Typ WN6. Er hat NGC 6888 als früheren Materieauswurf erzeugt. HD 192163 gehört zur Sternassoziation Cyg OB1, sein Farbindex B-V beträgt -0,01 mag, d.h. der Stern ist kräftig blau. Wolf-Rayet-Sterne sind ehemalige O-Sterne und massereich. HD 192163 liegt bei 15 Sonnenmassen. Sie haben sich bereits weiter entwickelt und erzeugen aufgrund ihres stetigen Massenverlustes einen gewaltigen Sternenwind. Durch diesen Wind wird NGC 6888 einerseits zur Expansion aufgeblasen und andererseits mit Ionisationsenergie versorgt. Das allein reicht aber nicht, die starke Emission des Nebels zu erklären. Die enorme UV-Strahlung von HD 192163 hilft zusätzlich, den Nebel zum Leuchten anzuregen.
Für Astrofotografen ist die Frage wichtig: Welche Emissionslinien gibt es in WR-Nebeln? Zunächst natürlich die Linien aus der „Balmerserie“ des ionisierten Wasserstoffs: Die rote H-Alpha-Linie bei 656 nm, die blaue H-Beta-Linie (486 nm), die violette H-Gamma-Linie (434 nm) usw. H-Beta ist gewöhnlich schon dreimal schwächer als H-Alpha, H-Gamma noch schwächer. Weiterhin ist die Doppellinie des zweifach ionisierten Sauerstoffs [O III] bei 495/501 nm Wellenlänge zu nennen, die ja auch in vielen Planetarischen Nebeln vorkommt. Sie hat in WR-Nebeln durchschnittlich etwa 20 – 80% der Intensität von H-Alpha. Das gilt auch für NGC 6888, jedoch ist [O III] an einigen wenigen Stellen (so am Außenrand) stärker als H-Alpha. Daher ist der Nebel im [O III]-Licht visuell wunderschön zu beobachten. Ganz nebenbei bemerkt: Ab 6 Zoll Öffnung gelingt die Beobachtung sogar bereits ohne Filter. Und was ist mit der [S II]-Linie? In Supernovaresten ist diese Doppellinie des ionisierten Schwefels bei 672/673 nm sehr stark und kann – wie im Krebsnebel – die Intensität der H-Alpha-Linie übertrumpfen. In NGC 6888 ist [S II] im Nordostbogen am stärksten, erreicht dort aber nur maximal 15% der H-Alpha-Intensität (R.A.R. Parker, 1995). Was aber etliche Astrofotografen kaum kennen: Jeder gewöhnliche H-Alpha-Filter lässt nicht nur H-Alpha-Licht durch, sondern auch direkt „links“ und „rechts“ neben H-Alpha das Licht des ionisierten Stickstoffs [N II] bei 655/658 nm. Die Rotfärbung eines Emissionsnebels ist also nicht allein durch H-Alpha vorgegeben, sondern auch durch [N II]. Und jetzt die Überraschung: Das Licht des Stickstoffs ist im Nordostbogen teilweise 60% stärker als das H-Alpha-Licht (R.A.R. Parker, 1995). Es wäre also falsch, hier von einer H-Alpha-Struktur zu sprechen!
Jetzt wieder mein scheinbar aussichtsloser „Kampf gegen Windmühlen“: Alle sog. „verbotenen Emissionslinien“ schreibt man in eckige Klammern, also: [S II], [N II], [O III] usw. Bitte nicht S II schreiben, und erst recht nicht S2 oder O3. In den Prospekten der Astro-Händler erlebt man diese Fehler leider oft.
Bernhard Hitzenhammer ist neu in unserer Runde und verstärkt die Fraktion der österreichischen AdW-Astrofotografen! Wie üblich zunächst ein lautes „Hallo“ zur Begrüßung. Ihm gelang am 8. Juli 2011 dieses treffliche Bild, gewonnen vom Balkon seiner Wiener Wohnung. Eine ALCCD 9 wurde als Kamera eingesetzt, dazu ein Foto-Newton von TS mit 200/800 mm. In Verbindung mit einem Korrektor (Paracorr) hat das Teleskop effektiv 920 mm Brennweite. Belichtet wurde 5 h in Summe (jeweils 100 min für H-Alpha, [S II] und [O III], nach der Hubble-Palette). Dazu schreibt der Autor: „Das Bild soll zeigen, dass auch mitten aus der Bundeshauptstadt vom Balkon aus mit Hilfe der Schmalbandfilter Deep-Sky-Fotos bei moderater Belichtungszeit möglich sind. Leider ist der [S II]-Anteil sehr, sehr gering, sodass das Bild hubble-untypisch wenig braun ist. Nur in den Sichelenden lässt sich der Schwefel im Hellgrünen erahnen.“ Na ja, das dürfte aber jetzt klar sein (Anmerkung P.R.).
RA = 20 h 12 min 06 s, DEK = +38° 21’ 18”