Neutrinos: Schneller als das Licht?
Wenn es sich bestätigt, wäre das Ergebnis die größte physikalische Revolution seit über einem halben Jahrhundert: Ein internationales Forscherteam behauptet, dass Neutrinos sich schneller als das Licht bewegen. Die Wissenschaftler haben die Ausbreitung der subatomaren Teilchen von einem Beschleuniger am Forschungszentrum Cern bei Genf zu einer Detektoranlage im Gran Sasso-Massiv in den italienischen Abruzzen vermessen. Die Ergebnisse wurden heute am Cern vorgestellt. Bewegungen schneller als das Licht sind nach Einsteins Relativitätstheorie verboten - einem wichtigen Grundpfeiler der Physik.
Ist also die Relativitätstheorie falsch und gerät die moderne Physik ins Wanken? "Das würde ich niemals behaupten", gibt sich Antonio Ereditato, der Sprecher der OPERA-Kollaboration, vorsichtig. Das Team habe seltsame Messergebnisse erhalten, die sich die Forscher nicht erklären können - und bitte deshalb Kollegen in aller Welt, die Messungen kritisch zu überprüfen. OPERA ist ein 1300 schwerer Neutrino-Detektor. Neutrinos sind Elementarteilchen mit extrem geringer Masse, die kaum mit anderen Teilchen in Wechselwirkung treten. Sie können daher nahezu ungehindert die ganze Erde durchdringen und sind nur schwer nachzuweisen. In den vergangenen drei Jahren hat das OPERA-Team 16.000 Neutrinos registriert, die 730 Kilometer entfernt bei Teilchenkollisionen am Cern entstanden waren.
"Wir messen die Entfernung und wir messen die Zeit - teilen beides durcheinander und erhalten die Geschwindigkeit", erläutert Ereditato, es sei also eine ganz einfache Messung. 2,43 Millisekunden dauert die Reise - und die Neutrinos legen sie 60 Nanosekunden schneller zurück als das Licht. Die Unsicherheiten der Messungen summieren sich auf 10 Nanosekunden - zufällige Messfehler scheiden deshalb nach Ansicht der OPERA-Forscher als Erklärung aus. Wenn die Relativitätstheorie korrekt ist, bliebe als einzige mögliche Erklärung ein systematischer Fehler - etwa bei der Kopplung der Entstehungszeiten der Neutrinos an die Ankunftszeiten im OPERA-Detektor über das GPS-System. Einen solchen Fehler konnten das OPERA-Team jedoch trotz sorgfältigster Analyse nicht finden. "Und nun mussten wir unsere Ergebnisse bekannt geben - wir konnten sie nicht unter den Teppich kehren", so Ereditato.
Physiker in aller Welt werden die Messungen mit großer Skepsis aufnehmen, nach Fehlern in der Analyse suchen und mit vergleichbaren Experimenten versuchen, die Ergebnisse zu reproduzieren oder zu widerlegen. Bewegungen schneller als das Licht sind für die Physiker schwer verdaulich - würden sie doch das Tor zu Zeitreisen und den damit verbunden Paradoxen - etwa der Möglichkeit, seine eigene Geburt zu verhindern - aufstoßen.
Quelle: arxiv.org/abs/1109.4897